2024-12-26 17:06:00
Christoph Koller, Vorsitzender Richter des 5. Senats am Frankfurter Oberlandesgericht, leitet seit bald drei Jahren das Staatsschutzverfahren gegen den syrischen Arzt Alaa M. und gibt den Ton vor, der im Gerichtssaal II an der Hammelsgasse herrscht. Fast immer ist er sachlich, manchmal auch mitfühlend. Aber Koller kann auch ungemütlich werden, wenn ihm etwas nicht passt. Dann schließt er Zuschauer aus, die herumlümmeln, an den Nägel kauen oder gar einnicken, lässt durchblicken, wenn er einen Verteidigereinwurf unpassend findet, oder blafft auch schon mal Alaa M. an, den syrischen Arzt, der in den Jahren 2011 und 2012 in seiner Heimat Regimegegner misshandelt haben soll. Verbrechen gegen die Menschlichkeit lautet die Anklage der Bundesanwaltschaft.
In der letzten Verhandlungswoche vor der kurzen Weihnachtspause platzte dem Vorsitzenden mal wieder der Kragen. Dieses Mal traf es einen Zeugen, der in Damaskus im selben Militärkrankenhaus wie der Angeklagte gearbeitet hat. Im Vergleich zu den meisten anderen Ärzten, die seit Beginn des Prozesses gehört wurden, war seine Haltung eine klar regimekritische, so dass er sein Heimatland bereits 2013 verließ. Als dem Zeugen, der seitdem in Deutschland lebt, mittlerweile auch eingebürgert ist und als Arzt arbeitet, seine Einladung nach Frankfurt zugestellt wurde, herrschte Baschar al-Assad noch scheinbar unantastbar im Präsidentenpalast in Damaskus. Wie viele andere Zeugen zuvor war der Regimegegner verunsichert, hatte Sorge, seine Aussage könne Familienangehörige in Syrien gefährden. Doch dann floh der Diktator, und die Lage für Syrer – vor Ort und in der Diaspora – veränderte sich von jetzt auf eben: Der lange Arm des Regimes, der auch immer wieder in den Prozess vor dem Frankfurter Oberlandesgericht hineingeragt hatte, war mit einem Mal abgeschlagen.
„Blutrache“
Doch sollten Christoph Koller und seine vier Kollegen angenommen haben, dass ihnen durch den Lauf der Geschichte an den Verhandlungstagen 164 und 165 nun das erste Mal ein Zeuge gegenübersitzen könnte, der sich ohne Beschränkung äußern würde, wurde diese Annahme enttäuscht. Zwar sagte der 40 Jahre alte Arzt dezidiert, jetzt, wo Assad weg sei, könne er endlich frei sprechen – nur hatte man in der Folge nicht das Gefühl, dass er das auch tat. Auf Fragen der Richter antwortete er wenig detailliert, teilweise gar ausweichend. Auf seine sehr konkreten Angaben, die er in einer Befragung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Jahr 2013 zu den Umständen im Mezzeh-Krankenhaus in Damaskus getätigt hatte, angesprochen, verwies er auf Erinnerungslücken – wie schon andere vor ihm, wenn auch teilweise aus anderer Motivation heraus. Als Koller ihm sein Verhalten vorhielt, gab er nach einigem Zögern an, im Sommer vom Onkel des Angeklagten kontaktiert worden zu sein; ein Kontakt, den er als Bedrohung empfunden hatte. Er legte einen Chatverlauf vor, formulierte das Wort „Blutrache“. Der Senat wirkte überrascht, ratlos und beendete die Sitzung.
Am Dienstag drauf war der Zeuge abermals geladen – und konnte sich weiter nicht erinnern. Koller schien den Eindruck zu haben, der Arzt wolle sich nicht erinnern, bezichtigte ihn gar der Lüge. Er wurde harsch. Und sehr laut. Daraufhin gab der Zeuge an, unter einer posttraumatischen Belastungsstörung zu leiden, in deren Folge er viel Erlebtes verdrängt habe.
„Wir müssen abwarten“
Neben der nachvollziehbaren Frustration des Vorsitzenden über einen weiteren Zeugen, der nicht von Anfang an mit offenen Karten spielte, war Kollers Ausbruch vielleicht auch ein Hinweis darauf, dass dieser Prozess langsam zu Ende gehen sollte. Der Erkenntniszugewinn aus den Vernehmungen in diesem Jahr scheint überschaubar. Bei einer mittlerweile höheren zweistelligen Zahl an Zeugen, die gehört wurden, kommt es nur noch selten zu Aussagen, die nicht schon in ähnlicher Weise getätigt worden wären. So berichtete beispielsweise auch der besagte Arzt der letzten Verhandlungswoche im Dezember, der Angeklagte habe in der Notaufnahme des Mezzeh-Krankenhauses in Damaskus inhaftierte Patienten geschlagen und beschimpft. Dieses Verhalten haben schon viele andere Zeugen beschrieben. Aufsehenerregend war in diesem Jahr vor allem eine Anhörung im Juli, bei der ein Zeuge anonym auftrat, verkleidet war und ausschließlich flüsternd und auf Englisch antwortete, um seine Identität nicht preiszugeben. Er berichtete unter anderem von einem Vorfall im Militärkrankenhaus in Homs, von dem er angab, ihn selbst miterlebt zu haben und bei dem Alaa M. die Genitalien eines Jungen mit Alkohol verbrannt haben soll.
Inwieweit die neue Situation in Syrien auch neue Optionen für den Prozess eröffnen könnte, scheint der Senat noch nicht einschätzen zu können. Auf Anfrage der F.A.Z. ließ Christoph Koller mitteilen, es sei sehr gut möglich, dass sich durch die aktuelle politische Entwicklung in Syrien Änderungen in Bezug auf die Bewertung von momentanen Bedrohungslagen ergebe. Im Prozess selbst sagte er: „Wir müssen abwarten, was die neue Lage in Syrien für uns alle bedeutet.“ In der letzten Verhandlungswoche im Dezember vereinbarte der Senat auf jeden Fall schon einmal weitere Termine bis zu den hessischen Sommerferien Anfang Juli 2025, sendete aber gleichzeitig das Signal, dass er den Prozess gerne schneller beenden würde.
Es ist davon auszugehen, dass der Senat seine Bemühungen noch einmal verstärken dürfte, den Zeugen zu laden, dessen Namen seit Januar 2022 immer wieder erwähnt wurde, da seine Misshandlungs-Vorwürfe gegen Alaa M. die Ermittlungen mit ins Rollen gebracht hatten. Die Aussage dieses Arztes könnte möglicherweise erhellend sein; ob es zu ihr kommen wird, ist jedoch unklar.
Terminiert ist hingegen der Auftritt des psychiatrischen Gutachters, der beauftragt worden war, nachdem der Senat im November 2023 verkündet hatte, dass im Falle einer Verurteilung von M. eine Sicherungsverwahrung für ihn angeordnet werden könnte. Er soll den Charakter des Angeklagten beurteilen. Der Zeuge, der sich im Juli nur getarnt und in Begleitung von BKA-Beamten in den Gerichtssaal getraut hatte, antwortete auf die Frage, wie er den Charakter des Angeklagten einschätze, dieser habe die Angewohnheit gehabt, mit seinen Folterungen zu prahlen und Regimegegner als „Kakerlaken“ zu bezeichnen.
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