2024-11-17 19:47:00
Nach dem Zusammenbruch der Ampelkoalition sind die Grünen hier versammelt, um ihre Partei aus dem Keller der Meinungsumfragen auf den Weg ins Kanzleramt zu bringen. Dazu gehört die Überzeugung, dass es ohne sie geradewegs in den Abgrund geht. Und mit ihr in eine neue Zeit. In aller grünen Bescheidenheit.
„Wir fangen noch einmal von vorne an“, lautete der grüne Refrain der drei Tage. Das Problem derzeit: Neunzig Prozent der Wahlberechtigten halten derzeit wenig oder nichts von den Grünen. Die Lösung: erst mal selbst dran glauben. Und an Robert Habeck, den Wirtschaftsminister und Vizekanzler im Kabinett von Kanzler Olaf Scholz (SPD). Ganz fest.
Diskutieren und stricken
Drei Tage lang hat sich die 50. Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen auf den Sonntagvormittag hinbewegt, diskutierend und auch strickend, worauf Baerbock gleich zu sprechen kommt. Es wurden etliche Dringlichkeitsanträge erörtert und beschlossen, etwa zur Ukraine und zur Sozialpolitik. Stundenlang hatten die Delegierten über 140 Änderungsanträge zur Asylpolitik diskutiert oder sich zu einem Verbot der AfD positioniert.
Zwischendurch wurde eine alte Führung verabschiedet. Die hatte, auch schon fast märchenhaft, die Schuld der anderen und nicht zuletzt des anderen übernommen und war nach einer Serie von Wahlniederlagen zurückgetreten. Es waren auch Habecks und Baerbocks Niederlagen, aber nur für Ricarda Lang und Omid Nouripour ging’s dann raus. Habeck lobte das als Verantwortungsgefühl und die „Chance für einen Neuanfang“, der vor allem sein eigener sein soll.
Auf dem Parteitag gab es dann zwei Reden, welche die Delegierten aus der Fassung brachten – die von Habeck, die in langen Jubelstürmen endete, und eine der früheren Vorsitzenden Lang, die eine Bilanz ihrer kurzen Amtszeit zog. Lang, inzwischen 30 Jahre alt, war die jüngste Vorsitzende einer Regierungspartei in der Geschichte der Bundesrepublik.
Lang war wie kaum eine zweite Politikerin Anfeindungen ausgesetzt
Und sie war wie kaum eine zweite Politikerin im Land persönlichen Anfeindungen ausgesetzt. Noch auf dem Parteitag war sie stets von starkem Personenschutz der Polizei begleitet. Die Beamten des Bundeskriminalamtes waren denn auch die Ersten, denen sie in ihrer Abschiedsrede für Schutz und Geduld dankte. Sie überbrachte dem Parteitag eine Art Ratgeber für bessere Politik. Es gehe nicht darum „Politik zu machen, damit wir uns besser fühlen, sondern um das Leben der Menschen besser zu machen“.
Die Demokratie sei in einer tiefen Krise. Ein Grund sei die „Hyperinfantilisierung der Politik“, die geglaubt habe, es gehe nur darum, das Richtige besser zu erklären, und die Wähler dabei oft wie Kinder behandelt habe. „Immer größer, immer schwülstiger“ werde geredet, sich aber zugleich immer weiter von den Alltagsproblemen der Leute entfernt. So hätten auch Grüne sich als Demokratieretter aufgespielt.
Diese Art, die vor allem den antifaschistischen Europawahlkampf der Grünen geprägt hatte, brachte den Demokraten keinen Zulauf. Diese sollten sich, so Lang, auch nicht „als Staubsaugervertreter der Demokratie“ gebärden. Sie sagte zudem: „Ich will nie wieder nach einem Wahltag hören, dass wir die Politik nur besser erklären müssen.“
Zu viel „in die eigene Blase kommuniziert“
Sie selbst, sagte Lang in ihrer von langem Applaus immer wieder unterbrochenen Rede, habe sich zeitweise in einen „Sprechroboter“ verwandelt, sie habe „nicht mehr gewusst, wer ich bin, und die Grünen wussten nicht mehr, wer sie sind“. Man habe zu viel „in die eigene Blase kommuniziert“ und nicht mit den Bürgern. Mit ihr verlieren die Grünen an der Spitze eine Begabung, deren Zeit nicht gekommen ist. Gewählt wurden mit Felix Banaszak und Franziska Brantner zwei Parteivorsitzende, deren Aufgabe es in den kommenden Wochen sein wird, die Partei aus der grünen Blase zurück in die Wirklichkeit zu führen.
Brantner forderte ihre Partei auf, selbstbewusst in den Wahlkampf zu ziehen, und wies Kritik an den Grünen zurück. „Ich habe es satt, dass alles, was anderen nicht in den Kram passt, uns als Ideologie angekreidet wird“, sagte sie. Brantner erhielt 78 Prozent der Delegiertenstimmen. Sie kommt aus Baden-Württemberg und hatte zuletzt als Parlamentarische Staatssekretärin im Bundeswirtschaftsministerium bei Habeck gearbeitet.
Nach Brantner wurde auch der Duisburger Banaszak mit fast 93 Prozent der Stimmen gewählt. Der Bundestagsabgeordnete aus Nordrhein-Westfalen begrüßte die Delegierten mit den Worten: „Herzlich willkommen in einer neuen Zeit!“ Er bezeichnete seine Kandidatur als „die vielleicht verrückteste Entscheidung meines Lebens“, wolle es aber unbedingt.
Ein kleiner Sonnenfleck auf Habecks strahlender Inszenierung
Der große Unterschied bei der Zustimmung war ein kleiner Sonnenfleck auf Habecks strahlender Inszenierung. Banaszak ist der Kandidat der Parteilinken für die Parteizentrale, in die weitere neue Leute wie Sven Giegold als stellvertretender Vorsitzender und Andreas Audretsch als Wahlkampfmanager einziehen. Dazu einige Medienprofis, deren Aufgabe es sein wird, die Sonne der Partei, den Kandidaten Habeck, zum Strahlen zu bringen.
Dann der Sonntagmorgen und die offizielle Bewerbung Habecks. Die Uhr schlug Mittag, und Baerbock schwenkte die Palmwedel. „Wer hat uns aus der russischen Abgängigkeit geführt und ist dafür buchstäblich bis ans andere Ende der Welt gereist?“ Robert, der Moses der Grünen. Und dann eine politische Liebeserklärung ohne Beispiel: „Ich will genau das, dich als Kanzler!“, rief Baerbock, die vor vier Jahren selbst nach dem Kanzleramt gegriffen hatte und Habeck ein paar wirklich dunkle Stunden bereitet hatte, ehe ihre eigene Kandidatur in den Schlick von ungenauen Angaben und schludrigen Buchzitaten geriet.
Danach war lange Schweigen zwischen den beiden, jeder flog seiner Wege in auswärtigen Wirtschaftsangelegenheiten. Erst im Frühsommer hatten die beiden Vorleute der Grünen beim Europawahlkampf wieder gemeinsam und vorne auf der Bühne gestanden. Das Ergebnis war ziemlich katastrophal, ebenso wie alle Landtagswahlen, bei denen die Grünen schwere Niederlagen erlitten hatten, auch und vor allem wegen der Berliner Politik.
Baerbock über Habeck: „So lässig. So charming“
„Robert kann nicht nur Verantwortung, Robert, du lebst Verantwortung“, rief Baerbock in Wiesbaden und geriet ins Poetische oder Ironische, das weiß man nicht so genau: „Keiner kann im Sturm so das Ruder herumreißen und bei Rückenwind die Segel richtig setzen wie du.“ Er sei „so lässig. So charming.“ Doch noch nicht genug, Habeck sei auch noch „nordisch bei Natur“. Sollte heißen: auch klimatisch genau der Richtige für einen Winterwahlkampf.
Also: „Jetzt gehen wir wieder gemeinsam auf Tour, raus in die Kälte, raus in den Wind – und auch dafür bist du genau der Richtige.“ Und dann erklärte sich die Mutter der feministischen Außenpolitik zum fast Äußersten bereit. Bei den Grünen seien nämlich manche Dinge heilig, etwa das Stricken auf Parteitagen. Und hier und heute verspreche sie: „Wenn’s richtig hart wird, fang ich auch noch damit an.“ Baerbock strickt Schal und Mütze für Habeck – der Parteitag jubelt.
Dann endlich der Auftritt des Kandidaten: Habeck reagierte auf die ungeheuer geballte politische Liebeserklärung zunächst kühl, beinahe kalt. Den Delegierten stockte der Atem, als Habeck seine Rede begann mit den Worten: „Ich kann das nicht so gut, dieses Lobhudeln und Komplimente annehmen.“ Dann aber das große, das tröstliche Aber: „Aber ich nehme es an, weil es von dir kommt.“
Ein Festival politischer Poesie
Und dann sang Habeck das Lied der Liebe zurück, wie der weichgezeichnete Mann in einem Schlagerduo. „Jetzt von dir diese Energie, diese Stärke zu übernehmen ist etwas wirklich Besonderes. Was für eine Anführerin, was für eine Staatsfrau, aber vor allem: was für eine Freundin“, säuselte Habeck. Dann wurde es fast erotisch: Er habe mit ihr einen „Vertrauensraum erlebt, der immer offen gewesen sei für persönlichste Wünsche, Sorgen und auch Eitelkeiten“. Es sei, so Habeck an Baerbock „ein großes Privileg, dich neben mir, vor mir und hinter mir zu wissen. Vielen Dank!“
Habeck redete dann etwa eine Stunde, und es ist nicht übertrieben, seine Rede als mitreißend zu beschreiben. Ein Festival politischer Poesie, philosophischer Selbstergründung, demütiger Zuneigung zum Selbst. Das muss man nicht mögen, die Delegierten mochten es. Habeck fragte, rein rhetorisch: „Ist es Hybris, diesen Führungsanspruch anzumelden, ist es falsche Bescheidenheit, nicht am Zaun zu rütteln?“
Er wolle, so die Antwort, seine Erfahrung und seine Leidenschaft einbringen mit der Kraft der Gesellschaft. Es gehe um die großen Fragen der Zeit und die Herausforderungen der Gegenwart. Konnte man da noch folgen? Gleich weiter: „Nicht aus Eitelkeit, sondern aus der Objektivität der Wirklichkeit.“ Applaus der Delegierten Hegel und Habermas. Daraus erwachse, so Habeck, der „Anspruch auf Verantwortung in der Gegenwart“. Atemlose Delegierte hatten jetzt offenkundig Mühe, der philosophisch-politischen Achterbahn ihres Kandidaten zu folgen.
„Ein Irrtum, dass Liberalismus bedeutet, man denkt nur an sich selbst“
Dann erzählte Habeck die Geschichte der Grünen, da konnten im Wiesbadener Saal wieder alle folgen – von den Anfängen bis zum heutigen Tag, eine einzige Emanzipationsbewegung der Selbstbestimmung und Freiheit. Applaus. Sein Anspruch: „In Verantwortung führen zu dürfen.“ Freiheit sei der Wesenskern grüner Politik, predigte Habeck dem Parteitag. Was die Freiheit betrifft, hatte Habeck auch einen Hinweis an die FDP: „Es ist ein Irrtum, dass Liberalismus bedeutet, man denkt nur an sich selbst.“
Die „Gasmangellage“ sei Realität gewesen, die Bedrohung, dass die Lichter ausgehen in ganz Deutschland, „das haben wir abgewendet“. Ursache für das ganze Leid, Inflation, Insolvenzen, Armut – das sei alles gekommen durch eine Abhängigkeit, in die Deutschland durch die Union und die SPD geführt worden sei.
Habeck setzt auf Europas Stärke statt auf Russlands Milde
Weiter ging es mit Schwung: Das Baltikum und Polen hätten Deutschland „angefleht“, sich an einer Baltic Pipeline zu beteiligen, und seien damals – es regierte Angela Merkel von der CDU – zurückgewiesen worden, zugunsten von Nord Stream 2. Die unmittelbare Folge: schlaflose Nächte für Deutschland. „Die große Koalition hat uns wissentlich und willentlich in die Abhängigkeit getrieben.“ Und jetzt, wo das knapp und mit enormen Kosten abgewendet wurde, beschwere sich die Union über den Zustand der Infrastruktur. Das Land habe seit 2018 „kein richtiges Wachstum“ mehr.
Das will Habeck ändern und setzt dabei für den Wahlkampf auf Europas Stärke statt auf Russlands Milde, wie aus seiner Sicht offenbar BSW, AfD und nennenswerte Teile der SPD. Europa, einfühlsam geführt von einem Robert Habeck, soll das Bollwerk gegen die aufstrebenden Autokratien werden, notfalls auch gegen ein Amerika, das sich rasch und brutal wandelt. Habeck brachte auch Selbstkritik vor, Zeugnisse seiner Selbstprüfung. Er habe Vertrauen verloren und gezweifelt. Doch die Antwort darauf laute: „Jetzt nicht kneifen.“ Riesenjubel.
War das überhaupt noch Politik?
Dann noch ein Augenblick der Poesie – war das überhaupt noch Politik? Habeck fragte sich vor 3000 Zuhörern, welcher Augenblick, „welcher Schmetterlingsschlag“ ihn tief im Inneren zum Kandidieren bewogen habe. Und plötzlich befand man sich am Wasser, Vater und Sohn Habeck beim Schwimmen. Und der Sohn fragte den Vater, ob der sich noch erinnere, wie er ihm das Schwimmen beigebracht habe.
Klar habe er das noch gewusst. Und wie er zu dem Kind gesagt habe: „Du musst dich bewegen, sonst gehst du unter.“ Dieser Satz aus dem Sommer sei im Kopf geblieben, habe ihn unterbewusst beschäftigt, es gehe darum, sich weiter zu bewegen, lernend. Das sei’s. Auch wenn das Gebäudeenergiegesetz wie ein Damoklesschwert über dem Wahlkampf schwebe. „Es ist ein Führungsanspruch, dienend zu führen – erst mit euch, wenn ihr wollt, und dann mit den Menschen in Deutschland.“
Die Abstimmung über die Kandidatur und den Antrag „D-05 Kandidat für die Menschen in Deutschland“ brachte ein fast überirdisches Ergebnis zutage: 96,5 Prozent Zustimmung für Habeck.
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