Nouvelles Du Monde

La crainte du second tour

2024-07-04 22:50:12

Bahman Ahmadi hat in seinem Leben noch nie gewählt. Aber diesmal denkt der 32 Jahre alte Kleinhändler und Filmemacher ernsthaft darüber nach. An diesem Freitag findet in Iran die Stichwahl um das Präsidentenamt statt. Mit seiner Stimme will Ahmadi einen Sieg des Hardliners Said Dschalili verhindern, der die wenigen Spielräume in seinem Leben noch weiter einschränken könnte.

Am ersten Wahlgang vor einer Woche hatten sich nur 40 Prozent der Wahlberechtigten beteiligt. So wenige wie noch nie in der Geschichte der Islamischen Republik. Im zweiten Wahlgang könnte das anders sein. Denn mit Dschalili steht ein Mann auf dem Stimmzettel, der noch ideologischer und kompromissloser ist, als der bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommene Präsident Ebrahim Raisi es war. Dschalili ist im Machtapparat bestens vernetzt und könnte das Amt nutzen, um den Einfluss des radikalsten Flügels des politischen Spek­trums auszubauen. Ihm gegenüber steht der moderatere Mediziner Massud Peseschkian, der im Falle eines Sieges kaum Möglichkeiten hätte, seine Vorstellungen im Apparat durchzusetzen. Nur Stil und Ton würden sich wohl ändern. Die Angst der Mittelklasse vor Dschalili könnte ihm zum Sieg verhelfen.

„Mit den 60 Prozent Nichtwählern in der ersten Runde haben wir unsere Botschaft an die Mächtigen schon gesandt“, sagt Ahmadi in einem Videogespräch. „Mit einer 70 Prozent hohen Wahlbetei­ligung in der Stichwahl können wir die Botschaft komplementieren.“ Der Mann, dem Wahlen bisher immer egal waren, hat diesmal Peseschkians Team Hilfe bei der Produktion von Wahlkampfvideos an­geboten. Dabei erwartet er nicht viel von einem Sieg des ausgebildeten Herzchirurgen. „Die Situation würde bleiben, wie sie ist.“ Unter Dschalili aber würde alles noch schlimmer.

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Die Überwachung würde zunehmen

Um den Unterschied zu erklären, erzählt Ahmadi von befreundeten Theaterstudenten, die fürch­ten, dass die Zensur noch strikter werde. „Das System ist nicht einheitlich“, sagt der Filmemacher. Ein Stück kann in einer Stadt genehmigt und in ei­ner anderen verboten werden. Um die Zen­sur zu umgehen, gibt es außerdem viele Aufführungen in privaten Räumen ohne öffentlichen Ticket­verkauf und Werbung. Die Karten werden über informelle Netzwerke vertrieben. Illegal. „Unter Dschalili würde die Überwachung zunehmen, weil er Posten mit den radikalsten Leuten besetzen würde“, sagt Ahmadi, dessen Name zu seinem Schutz geändert wurde. Zugleich würden kriegsverherrlichende Propagandastücke stärker gefördert und Schauspieler vor die Wahl gestellt, ohne Einkommen zu überleben oder sich daran zu beteiligen.

Es sind solche Alltagsthemen, um die es bei dieser Präsidentenwahl geht. Denn die großen Linien der Politik werden vom Revolutionsführer Ali Khamenei bestimmt. Auch für sein Geschäft als Händler fürchtet Ahmadi Nachteile. Wegen der internationalen Sanktionen ist Iran vom internationalen Zahlungsverkehr abgeschnitten. Das Geld werde händisch aus der Türkei über die Grenze getragen, sagt Ahmadi. Viele iranische Geschäftsleute haben sich in dem Nachbarland niedergelassen. Es besteht jedoch stets die Gefahr, dass ihre türkischen Konten gesperrt werden, weil Iran sich internationalen Regeln gegen Geldwäsche und Terrorfinanzierung nicht unterwirft.

Würde ein Regimesturz nur Blutvergießen bringen?

Peseschkian hat angekündigt, das ändern zu wollen. Dschalili setzt dagegen auf eine autarke Wirtschaft. „Er denkt wie Mao Zedong mit seinem ‚Großen Sprung nach vorn‘“, sagt der Händler. Der Hardliner stehe für ein Wirtschaftssystem, in dem die Mächtigen sich bereicherten und private Unternehmer keine Lobby hätten. Als Dschalili jüngst einen Markt in Teheran besuchte, wurde er ausgebuht. Um mehr Unterstützung für ihn zu sichern, wurde der ganze Apparat mobilisiert. Zum Beispiel wurden die Religionsstudenten aus Ghom vorzeitig nach Hause in ihre Dörfer geschickt, um dort für ihn zu werben.

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Im Gegensatz zu Ahmadi hat Zeynab Hosseini bisher an jeder Wahl teilgenommen. Sie erklärt das mit ihrer Erfahrung der Islamischen Revolution. Damals, 1979, war sie 14 Jahre alt. Sie verteilte Flugblätter für die Revolutionäre. Manche ihrer politisch aktiven Verwandten wurden zu Schah-Zeiten getötet. Andere standen nach der Revolution auf der falschen Seite, wurden verschleppt und tauchten nie wieder auf.

Nach dieser blutigen Erfahrung sagt sie: „Leute meiner Generation, die die Revolution miterlebt haben, haben versucht, bei jeder Wahl die richtige Entscheidung zu treffen.“ Nicht weil sie glaubten, dass sie damit viel bewirken könnten, sondern „weil dies der einzige Weg ist, der uns offensteht“. „Leute mit familiären Verpflichtungen wie ich können nicht einfach auf die Straße gehen und protestieren.“ Anders als viele junge Leute sieht sie in einem Sturz des Regimes keine Lösung, sondern nur den Beginn neuen Blutvergießens.

Dschalili schare Schläger um sich

Bei dieser Präsidentenwahl hat sie im ersten Wahlgang erstmals in ihrem Leben erwogen, nicht zu wählen. „Mein Herz sagte, wir sollten nicht auf dem Blut der Kinder rumtrampeln, die wir verloren haben.“ Die Tötungen von Demonstranten der Frau-Leben-Freiheit-Bewegung hätten „einen Graben zwischen der Mehrheit der Bevölkerung und der Regierung“ geschaffen. Es kostete sie Überwindung, doch am Ende ging sie hin und wählte für Peseschkian. Sie behauptet nicht, dass sie eine wirkliche Wahl hatte. „Wir sind gezwungen, für das kleinere Übel zu stimmen.“

Vor der Stichwahl allerdings hat sie alle ihre Freunde aufgefordert, sich zu beteiligen, um einen Sieg Dschalilis zu verhindern. In ihm sieht Hosseini einen „Taliban-ähnlichen“ Ideologen. Er schare Schläger um sich, die in der Vergangenheit ausländische Botschaften wie die bri­tische und die saudische angegriffen und Leute auf der Straße verprügelt hätten. Unter ihm als Präsidenten werde sich das Land international noch mehr isolieren, und die Inflation werde weiter steigen. „Selbst in entlegenen Dörfern haben die Leute für Peseschkian gewählt, weil sie erkannt haben, dass dieses System ihnen nicht helfen kann.“

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Hosseini fürchtet, dass sich die radi­kalen Kräfte in der Gesellschaft durch einen Sieg Dschalilis gestärkt fühlen würden. Die Zahl der Menschen, die seine Weltsicht teilten, nehme in beängstigender Weise zu. Die Frau nennt ein Beispiel: Dschalilis Wahlkampfmanager sage, wenn Frauen auf der Straße belästigt würden, liege das daran, wie sie angezogen seien. „Ich will, dass meine Tochter das Maß an Freiheit erhalten kann, das sie jetzt hat“, sagt Hosseini, deren Name ebenfalls geändert wurde. Trotz des Kopf­tuchzwangs und der Patrouillen der Sittenpolizei geht ihre Tochter seit den Protesten von 2022 unverschleiert auf die Straße. So wie viele andere Iranerinnen auch.

Hosseini fürchtet einen Rückfall in die Achtzigerjahre, als die Kleiderordnung noch viel strenger war als heute und Frauen von Führungspositionen ferngehalten wurden. Sie macht sich keine Illusion, dass Peseschkian ein neues Gesetz verhindern könnte, das härtere Strafen für unverschleierte Frauen vorsieht. „Aber zumindest würde sich ein Mensch, so sehr er kann, dagegenstellen.“ Aus Dschalilis Team sei außerdem der Vorschlag gekommen, gegen Studenten, die sich an Protesten beteiligen, eine zehnjährige Ausreisesperre zu verhängen. „Das sind die Ängste, die unsere Gesellschaft im Moment umtreiben.“



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