Le débat de Solingen a besoin d’obstacles à l’action

2024-09-12 13:18:16

Von George Herbert Mead, einem Klassiker des Sozialbehaviorismus, stammt die These, dass die funktionale Notwendigkeit des Nachdenkens in einer Zwischenphase zwischen Handlungsimpuls und Handlungsvollzug liegt. Alltagshandlungen, routinisierte Praktiken, gewohnte Muster kommen fast ohne Beteiligung von Reflexion, Mead sagt sogar: ohne Bewusstsein aus. Erst wenn Unsicherheit besteht, eine Uneindeutigkeit in der Weltanpassung auf­scheint, wenn konkrete Alternativen zur Verfügung stehen, entsteht ein Bedarf an Bewusstheit. Diese Denkungsart relativiert die phantasmatische Idee des stets rational handelnden, immer mit guten Gründen ausgestatteten und vollständig zurechnungsfähigen Akteurs, den man stets mit guten Gründen in seiner Alltagsroutine stören kann. Es ist eine empirisch sensible Theorie des Handelns.

Die skizzierte Zwischenphase nennt Mead eine „Handlungshemmung“. Das ist ein sehr treffendes Bild. Bewusstheit hemmt den unmittelbaren Vollzug, zwingt zu Distanzierung, beteiligt das Bewusstsein an sozialen Prozessen – und ist womöglich noch unwahrscheinlicher als die impulsförmige Form von Ordnung. Handlungshemmungen sind die Orte, an denen Bedeutungen, kulturelle Formen, Gründe und Abstraktionen in Handlungsabläufe eingebaut werden. Mead beschreibt das sogar naturgeschichtlich in einer evolutionären Kontinuität von Tierpopulationen bis hin zum Menschen, der dann auf sinnhafte Abstraktionen angewiesen ist.

Umlenkung von Impulsen in Verfahren

Man könnte sagen: Hemmungen sind die Basis für zivilisiertes Verhalten, wenn man darunter versteht, nicht einfach Impulsen zu folgen, sondern vorsorglich Hindernisse einzubauen, die den nächsten Schritt relativieren und geradezu gegenständlich machen. Zivilisiertes Verhalten erkennt man dann auch daran, nicht alles unmittelbar zu sagen, was einem unmittelbar in den Kopf kommt. Die Handlungshemmung ist ein Garant für zivilisierte Verhältnisse.

Um es an einem drastischen Beispiel zu verdeutlichen: Würde jemand mein Kind umbringen, wäre der Impuls, es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen, eine geradezu „natürliche“ und auch verständliche Reaktion. Dagegen aber haben gesellschaftliche Instanzen Handlungshemmungen eingebaut: in rechtlicher Form, in moralischer Form, in institutionellen Bedingungen und nicht zuletzt durch Arbeitsteilung. Über Strafen entscheiden regelmäßig Unbeteiligte und nicht die Opfer, die ihrerseits durch dasselbe Strafrecht an jener Unmittelbarkeit gehindert werden, das auch für den Täter gilt. Rule of Law bedeutet vor allem: zivilisierte und zivile Formen der Etablierung von Handlungshemmungen.

Sieht man sich die Diskussion um migrations-, asyl- und strafrechtliche Konsequenzen aus den schrecklichen Morden in Solingen an, scheint es auf unterschiedlichsten Ebenen zu Enthemmungen zu kommen. Dabei soll hier nicht über konkrete Schritte nachgedacht werden, sondern über den Modus des Nachdenkens. Wenn eine Parteivorsitzende einer Regierungspartei ungerührt sagt, aus Solingen könne man für die Frage einer Änderung der Polizeibefugnisse „nicht allzu viel lernen“, weil der Täter der Polizei ja nicht bekannt gewesen sei, ist solche Kurzschlüssigkeit offensichtlich ebenso hemmungslos wie die unmittelbaren Impulse, das Asylrecht zu schleifen und Fluchtmigration womöglich komplett abzuschneiden. Es muss diskutiert werden, warum der Staat geltende Gesetze nicht konsequent anwendet – im Sinne eines Rechts, das keine kollektiven Gruppen kennt, sondern zurechnungsbedürftige Personen. Zugleich muss diskutiert werden, dass der enthemmte Schluss vom konkreten Fall auf ganze Gruppen fast immer falsch ist. Die Frage lautet, wo sich derzeit solche Handlungshemmungen einbauen lassen. Die Bundesregierung wird von der Opposition vor sich hergetrieben, um möglichst scharfe Sätze zu sagen; die Opposition wird von Populisten vor sich hergetrieben, die eine allgemeine Verunsicherung kalkuliert nutzen; und die mediale Öffentlichkeit treibt sich selbst voran, weil distanzierte Kommunikationsformen gerade kaum anschlussfähig sind.

Es ist wie bei anderen Transformations- und Konfliktthemen: Man ist zufrieden, wenn das Gegenüber die eigenen drastischen Sätze wiederholt und bestätigt, in Form starker Gesten und entschlossener Handlungsbereitschaft. Unbedacht blei­ben die Bedingungen der eigenen Möglichkeiten. Die Fragen, wie sich Probleme tatsächlich lösen lassen, wie man Herausforderungen überhaupt definiert, wie man Befürchtungen ernst nimmt, und wie man identifizieren kann, wo man womöglich selbst falsch lag, spielen keine Rolle. Immer wieder ist zu beobachten, dass der stabile Konflikt zwischen Konfliktpartnern dritte Perspektiven geradezu ausschließt. Von Mead kann man lernen, dass es ohne den bewussten Einbau von Handlungshemmungen nicht geht und dass das Nachplappern vermeintlicher Lösungen nur kurzfristige Entlastung bieten wird. Und es gehört zu den Illusionen jener Dritter, dass Hinweise wie diese überhaupt Handlungshemmungen erzeugen können – Hinweise, die analytisch beschreiben, wie unwahrscheinlich das ist.



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