2025-01-30 22:21:00
Im Wahlkampf verwandelt sich Politik leicht in ein Theaterstück. Weil immer Wahlkampf ist, hat das Stück auch keine Pausen. Seine Besonderheit ist zum einen, dass die Schauspieler nicht miteinander, sondern gegeneinander spielen. Zum anderen befindet sich das Publikum, die Wählerschaft, im Augenblick der Aufführung gar nicht im Raum. Darum fallen die Gesten und Sätze noch übertriebener und noch unsicherer aus. Ständig wiederholte Phrasen beherrschen die Szene. Viele Sätze werden ohne Rücksicht darauf gesagt, wie leicht erkennbar ihre Widersprüchlichkeit ist.
Er bedauere es, dass es diese Mehrheit gegeben habe. Diesen erstaunlichen und nicht geprobten Satz sagte Friedrich Merz, nachdem der Entschließungsantrag seiner Fraktion im Deutschen Bundestag knapp angenommen worden war. Die Mehrheit kam aber nicht überraschend. Wie kann er also bedauern, was er mit dem durchaus nachvollziehbaren Argument in Kauf genommen hat, das Richtige werde nicht dadurch falsch, dass die Falschen ihm zustimmten? Ob es das Richtige war, ist dann noch eine andere Frage.
Bei der AfD siegt Taktik über Selbstachtung
Derzeit verwirren sich viele Begriffe. So gibt es zwischen der Union und der AfD keine Zusammenarbeit, wie vor allem Politiker der Grünen insistent behaupten. Abstimmen fällt – anders als Gesetzesvorlagen schreiben, Entscheidungen koordinieren oder im Vorfeld von Abstimmungen Verhandlungen führen – ohnehin nicht unter den Begriff der Arbeit. Wer den Eindruck erweckt, die Christdemokraten hätten mit der AfD gestimmt, täuscht bewusst. Das Umgekehrte trifft zu. Zugleich beschimpfte Alice Weidel im Bundestag die Union, um danach ihrem Antrag zuzustimmen, der seinerseits die AfD als unerträgliche Partei beschreibt. Taktik siegt über Selbstachtung. Sollte Friedrich Merz gehofft haben, durch jenen Passus die AfD zur Ablehnung des Antrags zu zwingen, müsste er sich jetzt über seine Naivität belehrt sehen.
Auf der Wahlkampfbühne verklumpen alle Aspekte, die in der Sachfrage der Migrationspolitik eine Rolle spielen. Die Regierung hat keine Mehrheit und kann sich auch nicht brüsten, eine wirksame Einwanderungspolitik betrieben zu haben. Es wird von „Behördenversagen“ (Olaf Scholz) gesprochen, weil es Politikversagen nur bei den anderen gibt. Das geltende Asylrecht lässt sich nur schwer rational rekonstruieren, die Taten einzelner Personen ohne Aufenthaltsrecht sind ungeheuerlich. Es wird auf Europarecht verwiesen, als sei es unveränderbar und man könne sich nur entweder daran halten oder es brechen. Dadurch werden andererseits Entschließungsanträge nicht schlüssiger, über die fast alle Juristen den Kopf schütteln und deren Wirkung vermutlich eine symbolische ist. Man soll aber nicht sagen „nur symbolisch“, denn der Satz von Heiner Geißler, in der Politik seien Emotionen Fakten, bleibt wahr.
So zielte der Entschließungsantrag denn auch gar nicht auf das Recht, sondern auf die Gefühle „der Menschen“, auf Umfragen und den Wahltermin. Das tun freilich auch die Brandreden, die allen Ernstes behaupten, Friedrich Merz habe die Tür zu einem neuen Faschismus, einem neuen „Tausendjährigen Reich“ aufgestoßen, so gerade Rolf Mützenich, der sich darüber „tief enttäuscht“ zeigt. Wenn Wahlkampf ist, sind alle Sätze Wahlkampfsätze, und fast alle Gefühle sind Aufführungen.
Wir erleben also, wie Sachfragen, Rechtsfragen, taktische Manöver, Blicke auf die Umfragewerte, Wahlkampfgerede, geschürte Emotionen, historisch an den Haaren herbeigezogene Vergleiche und Beschimpfungen einander abwechseln. Das ist Politik. Politik ist aber auch der Versuch, Regierungen zu bilden. Wie soll das nach diesem Theaterstück noch gelingen? Robert Habeck hat wochenlang in alle Mikrofone gesprochen, die Parteien der Mitte müssten – anders als nach dem Refrain Markus Söders – miteinander koalitionsfähig sein. Jetzt erwecken die Parteien der Rumpfregierung den Eindruck, die Union habe sich aus dieser Mitte entfernt. Friedrich Merz wiederum spricht von seinem Gewissen, das ihn zum 5-Punkte-Plan zwinge. Die Union nicht mit der AfD, Rot und Grün nicht mit der Union und nicht mit der FDP, die CSU nicht mit den Grünen. Es wird interessant zu sehen sein, wie alle von ihren Sprüchen wieder herunterkommen, wenn nach den Wahlen die Macht verteilt wird.