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« Ne supportez pas longtemps l’horreur »

by Nouvelles

2024-08-26 14:43:35

Für den Postboten ist der Tag schon um halb zehn Uhr morgens gelaufen. „Wollen Sie mich jetzt verhaften, wenn ich hier einen Brief einwerfe?“, fragt er eine Polizistin, die ihn gerade daran gehindert hat, zum Briefkasten an einer Straßenecke zu gehen. Denn durch die Straße in der Solinger Innenstadt fährt gleich der Konvoi mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), an jeder Kreuzung stehen Polizisten und halten Passanten auf. Eine Frau zeigt ihren Zettel, der einen Arzttermin bestätigt: keine Chance. Zu Fielmann? Bitte drei Straßen weiter, Zugang ist auf der anderen Seite.

Am Fronhof haben sich dutzende Kamerateams positioniert, ein Bundespolizist mit Spürhund untersucht jedes Teil der Ausrüstung. Eine Anwohnerin blickt skeptisch auf den Kameraauflauf vor ihrer Tür an der Solinger Stadtkirche. Es ist der Ort, wo am Sonntag der Gedenkgottesdienst stattgefunden hat, wo Anwohner seit Tagen Kerzen und Blumen niederlegen. Die Kirche liegt gleich neben dem Fronhof, wo der mutmaßliche Attentäter Issa al H. am Freitagabend auf dem „Festival für Vielfalt“ drei Menschen mit einem Messer getötet und weitere acht verletzt hat. Die Blutspuren am Tatort sind inzwischen entfernt, auf der Leinwand, die dort steht, flackert eine Kerze.

Nachdem sich der Bundeskanzler am Wochenende nur auf anderen Terminen zu dem Anschlag geäußert hat, ist er am Montagmorgen auch zum Tatort gekommen. Am Solinger Rathaus hat Scholz zunächst den Solinger Bürgermeister Tim Kurzbach begrüßt, einen Parteigenossen, gemeinsam mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (CDU), dessen Stellvertreterin, die Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (Grüne), und Innenminister Herbert Reul (CDU). An der Stadtkirche legen sie jeweils eine weiße Rose ab, danach bedanken sie sich bei den Rettungssanitätern, der Feuerwehr und anderen Helfern, die seit dem Messerangriff in der ganzen Stadt im Einsatz waren.

Scholz spricht übers Waffenrecht

An abgesperrten Zugängen am Platz haben sich Anwohner eingefunden, bis zur Kirchtreppe hinauf stehen sie. Die Stimmung ist bedrückt, trotz der vielen Menschen ist es zunächst ruhig auf dem Platz. Weil ein Passant auf der Treppe vor der Kirche kollabiert, kommt ein Krankenwagen – auch durch die Rettungsaktion verzögert sich die Stellungnahme des Kanzlers nochmals. Ein Mann beschwert sich, warum er so lange warten müsse. Er wolle Informationen dazu, warum die Abschiebung des mutmaßlichen Attentäters nicht geklappt habe. Ein anderer Mann fällt ihm ins Wort: „Dann gehen Sie doch und wählen Sie die AfD, ich kann’s nicht mehr hören.“ Der Tumult währt nur kurz. Wo viele Menschen sind, gibt es viele Meinungen: Mancher wundert sich über den Aufwand, ein anderen ist froh, dass der Kanzler hier vorbeikommt. Und dazwischen gibt es immer wieder Menschen, die einen Politikwechsel fordern.

Scholz ist bemüht, nicht nur den Tröster zu geben, wenngleich er seine Ansprache vor den Fernsehkameras mit dem Mitgefühl für die Opfer, ihre Familien und die ganze Stadt beginnt. Doch nach dem Dank an die Sanitäter und alle Helfer schwenkt der Kanzler schnell um zum Waffenrecht. „Offensichtlich wird es jetzt darum gehen, dass wir die waffenrechtlichen Regelungen, die wir in Deutschland haben, noch einmal verschärfen. Das gilt insbesondere, was den Einsatz von Messern betrifft“, sagt Scholz. „Das soll und wird jetzt ganz schnell passieren“, die Bundesregierung wolle dazu einen Vorschlag machen.

Auch zu Abschiebungen äußerte sich der Kanzler: „Wir werden alles dafür tun müssen, dass diejenigen, die hier in Deutschland nicht bleiben können und dürfen, zurückgeführt und abgeschoben werden.“ Mit den gesetzlichen Regeln, die jüngst beschlossen wurden, seien „die Möglichkeiten massiv ausgeweitet, solche Rückführungen auch durchzuführen“, sagt Scholz. Gegenüber dem Vorjahr gebe es eine Steigerung um 30 Prozent, wenn man 2021 als Vergleich betrachte, seien es zwei Drittel mehr. „Wir werden mit rechtlichen Regeln dazu beitragen, dass wir diese Zahl noch erhöhen können“, sagt Scholz.

Wüst: Es müssen Taten folgen

Wie lange der mutmaßliche Täter tatsächlich untergetaucht war und ob er deshalb wirklich nicht früher hätte abgeschoben werden können, darum drehen sich am Montagmorgen nicht nur in der öffentlichen Debatte die Fragen, sondern auch in Solingen. Issa Al H. war Ende Dezember 2022 nach Deutschland gekommen. In Bielefeld stellte er einen Antrag auf Asyl. Dieser wurde abgelehnt. Schon im vergangenen Jahr sollte der mutmaßliche Messerangreifer deshalb nach Bulgarien abgeschoben werden. Zuständig ist nach dem Dubliner Übereinkommen das Land, das zuerst von einem Asylbewerber betreten wird. H. soll dann in Deutschland untergetaucht sein, wodurch die Abschiebung vorerst hinfällig wurde, später wurde er nach Solingen überstellt.

Der 26 Jahre alte Tatverdächtige aus Syrien stellte sich am Samstag und sitzt seit Sonntagabend in Untersuchungshaft. Der Generalbundesanwalt ermittelt wegen Terrorverdachts. Issa Al H. wird vorgeworfen, der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) anzugehören. Die Terrormiliz reklamierte den Anschlag für sich und veröffentlichte am Sonntag ein Video, das den Täter zeigen soll. Wann das Video aufgenommen wurde und ob es sich tatsächlich um den Täter handelt, ist bislang nicht zweifelsfrei geklärt.

Auch der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wüst spricht am Montag darüber, dass nach der ersten Frage nach dem „Warum?“ jetzt das „Was nun?“ folge. „Die Menschen haben zurecht die Erwartung, dass wir Antworten geben. Es müssen Taten folgen“, sagte Wüst. Dabei gehe es auch um den Umgang mit Flucht und Migration. Menschen, die dauerhaft kein Recht hätten, hier zu sein, müssten das Land verlassen – oder besser noch gar nicht herkommen. „Wenn es schief gelaufen ist, muss das auch klar benannt werden“. sagt Wüst. Zudem müsse diskutiert werden, ob die Behörden derzeit richtig ausgestattet sind. „Die freie Gesellschaft lässt sich nicht niederringen, aber sie muss auch wehrhaft sein“, sagt Wüst.

Unter den Zuhörern ist auch Philipp Müller, ein Urgestein der Solinger Kulturszene, er hat das Stadtfest mitorganisiert. „Ich hab noch so eine Wein-Katharsis in mir“, sagt Müller, manchmal überkomme es ihn noch. Aber nicht hier am Fronhof. „Ich weiß, dass wir weiter feiern werden, weiter feiern müssen. Sonst haben die gewonnen“, sagt Müller. Einen der Getöteten kennt Müller persönlich, er sei früher oft Gast gewesen bei vielen Konzerten in seinem Club. Erfahren hat er davon, weil am Ort des Gedenkens ein Foto des Verstorbenen aufgestellt ist. Auch von den Verletzten kennt er zwei: „Solingen ist ja ein Dorf, 160.000 Einwohner, man kennt sich hier.“ Über die Demonstrationen in der Stadt am Sonntagabend hat sich Müller geärgert. „Das fand ich so furchtbar, wir sind hier noch im stillen Gedenken. Und da kommen Menschen nach Solingen, nur um das zu instrumentalisieren.“

Auch der Solinger Oberbürgermeister Kurzbach weist am Montag darauf hin, dass mit jeder neuen angemeldeten Kundgebung auch wieder die Einsatzkräfte gefordert seien. „Führt die Debatten, aber führt sie gerne in euren Städten“, sagt Kurzbach. „Es geht nicht nur um Solingen, es geht um unser Land.“ Kurzbach bittet um die Möglichkeit, dass die Stadt zur Ruhe kommen könne. „Wir sind noch lange nicht durch mit dem Schrecken hier.“



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