2024-08-28 22:06:59
Wenn Jazzmusiker häufig zusammen spielen, dann ist es, als würden sie einander die Bälle zuwerfen. „Milestones“ von Miles Davis, aus dem gleichnamigen Album von 1958, ist eines dieser Stücke, die nie gleich klingen, egal, wie oft man sie hört. Wayne Tuckers Trompetenklang scheint zu tanzen, und als er abgibt an den Bass von Eric Lemons, ist es wie ein fließender, leichter Pass.
Dicht nebeneinander stehen und sitzen fünf Musiker in einem Wohnzimmer in Brooklyns Nachbarschaft Bedford Stuyvesant. „Parlor Room“ heißt das eigentlich, ein herrschaftlicher Raum zur Straße hin, in dem man im 19. Jahrhundert in den eleganten Brownstones seine Gäste empfing. Miles Davis habe an diesem Wochenende Geburtstag, sagt Lemons, der Bassist. Er steht vor den alten, mit Glasornamenten verzierten Fenstern, draußen wird es langsam dunkel. Sankofa Aban heißt das mehr als 125 Jahre alte Haus, in dem man Zimmer mieten und jedes Wochenende Jazz hören kann. In der Sprache der Akan aus dem heutigen Ghana beschreibe der Name einen bunten Vogel, der nach hinten greife, aber sich vorwärtsbewege, kraftvoll, so erklärt es Debbie McClain, die die Jazzkonzerte seit fünfzehn Jahren veranstaltet.
Charme des 19. Jahrhunderts
Ihr Salon hat den Charme des 19. Jahrhunderts bewahrt: aufwendige Holzeinbauten um große Spiegel, offene Kamine, altes Parkett. An der Decke knirscht ein Ventilator, den man aber nur hört, wenn die Musiker pausieren. Die Gäste sitzen an kleinen Tischen und in zwei Stuhlreihen im hinteren Teil des Raumes, dort, wo man tagsüber in den Garten schauen kann. Alle Plätze sind besetzt, kaum jemand unterbricht die Musik durch leises Reden. Eric Lemons, Debbies Geschäftspartner, erzählt zwischendurch von der Geschichte der Nachbarschaft. Bed Stuy war neben Harlem im zwanzigsten Jahrhundert die zweite New Yorker Hochburg des Jazz. Die Musik war überall, sagt Lemons, die Leute veranstalteten Hauskonzerte, berichteten sich gegenseitig von den Prominenten, die sie gesichtet hatten – Lena Horne, Charlie Parker, und eben Miles Davis, von dem sie heute besonders viele Stücke spielen.
Zwischen den Sets sitzt Debbie McClain an einem Tisch hinten rechts, sie hat sogar ein kurzes rotes VIP-Seil gespannt, gehalten von goldfarbenen Ständern. „Danke fürs Kommen!“ ruft sie einem Gast zu, der sich auf den Weg zur Tür macht. Früher seien vor allem Leute aus der Nachbarschaft gekommen, erzählt sie. Über die Jahre berichteten ein paar Zeitungen und Fernsehsender, und heute finden auch Touristen den Weg hierher. Eine Alkohollizenz hat Debbie nicht – jeder darf seine eigene braune Tüte mit Wein, Bier oder etwas Stärkerem mitbringen. Vor der Pandemie gab es zu jedem Ticket Fish Fry, gegrillten Fisch, und diese Tradition soll bald wieder aufleben.
Zentrum afroamerikanischer Kultur
Nirgendwo in New York gibt es mehr intakte viktorianische Brownstone-Häuser wie das von Debbie als in Bed Stuy – mehr als achttausend sollen es sein. Gebaut haben viele davon deutsche und englische Architekten. Als nach dem Ersten Weltkrieg immer mehr Schwarze aus dem Süden in die Nachbarschaft kamen, zogen die meisten Weißen weg. Für schwarze Mittelklasse-Familien aus Harlem wiederum wurde Brooklyn immer attraktiver, weil die großzügigen Häuser viel Platz boten. „Take the A-Train“, der Song von Duke Ellington, steht für die Verbindung von Harlem und Bed Stuy als Zentren afroamerikanischer Kultur – auch wenn Ellington dem Komponisten Billy Strayhorn seinerzeit nur beschreiben wollte, wie der zu seiner Wohnung in Harlem gelangte. Debbies Brownstone ist nicht der einzige Ort, wo man der Tradition des Jazz in Bed Stuy nachspüren kann – da ist zum Beispiel Sistas’ Place oder die Bar Lunático. Neuere Restaurants wie Saraghina oder L’Antagoniste ziehen auch Besucher aus anderen Stadtteilen an. Kultur und gutes Essen gab es hier schon immer, aber seit einigen Jahren kommen auch weiße Mieter, Hauskäufer, Touristen – manchmal schreibt jemand, die Ecke sei jetzt hip. Die Kehrseite: immer mehr Menschen ziehen weg, Brownstones kosten inzwischen mehrere Millionen Dollar, der Anteil der schwarzen Bewohner ist von mehr als 80 auf 46 Prozent gefallen.
Die Nachbarschaft habe sich in ihrer Straße gar nicht so sehr verändert, sagt Debbie. Sie kenne immer noch mehrere Familien in ihrem Block und die meisten Neuzugänge fügten sich gut in die Gemeinschaft ein. Die Kinder könnten immer noch auf der Straße spielen, erzählt die Unternehmerin – sie überlasse ihnen auch gern ihren kleinen Hof, wo im Sommer oft die Musik spielt. Das Brownstone gehört ihrer Familie schon seit Generationen, all die antiquarischen Möbel und Erinnerungsstücke kommen von ihren Vorfahren, die zum Teil aus Kuba einwanderten. Ihr Alter ist nicht leicht zu erraten – man liegt schonmal mehrere Jahrzehnte daneben und staunt, wenn von einem Sohn über fünfzig und mehreren Enkelkindern die Rede ist.
Er lebe ein paar Straßen weiter und werde jetzt oft kommen, sagt ein Mann im Vorbeigehen. Während die Besucher, die nur für das erste Set bezahlt haben, gehen, drängt sich das späte Publikum an ihnen vorbei. „Honey, honey“, ruft Debbie – zwei junge Männer haben sich ohne abzuwarten ganz nach vorn gesetzt. Debbie steht auf, winkt sie zu sich, sie sollen weiter hinten sitzen. Alle Konzerte sind an diesem Wochenende ausgebucht. Als die Musiker während der Pandemie nach draußen ausweichen mussten und sie die Ticketpreise senkte, machte sich Debbie schon Sorgen – die Einnahmen aus dem Bed and Breakfast brachen auch weg. Aber das ist längst vorbei, und die Familie denkt über die Zukunft nach: Vielleicht eröffne sie bald ein richtiges Boutique-Hotel, sagt sie.
Draußen ist es jetzt dunkel, eine warme Nacht. Durch die geschlossenen Fenster ist kurz das Klavier zu hören, dann gedämpft die Stimme von Eric Lemons, er begrüßt die neuen Gäste. Ein Rideshare-Taxi hält, zwei junge Frauen steigen aus, eine geht schnell die Treppe hinauf, dreht sich zur anderen um, die auf ihren hohen Stiletto-Sandalen nur langsam nachkommt. Die zweite trägt ein kurzes silbernes Pailettenkleid, aufwendig drapierte Locken, sehr lange künstliche Wimpern. „Komm, Babygirl“, ruft ihre Freundin. „Beeil dich, ich biete dir hier etwas ganz Besonderes an deinem Geburtstag!“
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