Soins en Allemagne : les experts s’attendent à une « avalanche »

2024-10-07 22:31:18

Wie viel ist eine Ankündigung eines Ministers wert, die das letzte Jahr einer Legislaturperiode betrifft? „Wir werden in wenigen Wochen ein großes Pflegekonzept vorlegen“, sagte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) Mitte September im Bundestag. Am Montag beteuerte er diese Ambition. Eine Strukturreform soll es sein, die Leistungsversprechen will der Minister aber nicht kürzen.

In einer alternden Gesellschaft, in der absehbar Hunderttausende Pflegekräfte fehlen werden, sollen immer mehr Pflegebedürftige die Leistungen abrufen können, die heute – gerade so – zur Verfügung stehen. Wie kann das funktionieren? Oder anders gefragt: Kann man sich heute sicher sein, dass die Beiträge, die man in die Pflegekasse zahlt, tatsächlich für die Zukunft absichern – und nicht bloß in die Gegenwart eines Systems gepumpt werden, das bald implodiert?

Diese Frage, auf die seit vielen Jahren eine politische Antwort fehlt, stellt sich umso mehr nach einem Bericht des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) vom Montag, nach dem die Sozialabgaben insgesamt so stark steigen sollen wie seit zwanzig Jahren nicht mehr, damit die Pflegeversicherung überhaupt zahlungsfähig bleibt. Lauterbach dementierte die Gerüchte nach einer drohenden Insolvenz. Fachleute bezweifeln, dass eine grundlegende Reform vor der Bundestagswahl im Herbst 2025 noch machbar ist.

Lauterbachs Szenarien

Um zu verstehen, wie Lauterbach die vielen offenen Fragen für sich beantwortet, ist ein Blick in den Bericht der Bundesregierung aus dem Mai dieses Jahres hilfreich, in dem auf 134 Seiten „Szenarien und Stellschrauben möglicher Reformen“ der sozialen Pflegeversicherung aufgeführt sind. Diskutiert werden vier Grundszenarien: eine Fortsetzung des gegenwärtigen Systems, in dem eine sogenannte Teilkaskoversicherung, die das Risiko der Pflegebedürftigkeit nicht vollständig absichert und von den eingezahlten Beiträgen finanziert wird, fortgesetzt wird.

Das zweite Szenario wäre eine Ausweitung des Systems auf eine Vollkaskoversicherung, für alle pflegebedingten Kosten würde in diesem Fall der Staat aufkommen. Beide Varianten werden jeweils auch mit einem neuen Finanzierungsmodell durchgespielt: einer Kapitaldeckung. Das sind die Szenarien drei und vier. Man würde einen Teil des eingezahlten Geldes jahrzehntelang, etwa verwaltet durch die Bundesbank, auf Märkten anlegen, um es zu vermehren, bis es abgerufen wird. Lauterbach lässt auf dem Papier sehr unterschiedliche Optionen durchspielen, auch solche, die einen echten Einschnitt bedeuten würden.

Die volle Finanzierung des gesamten Pflegebedarfs, Szenario zwei, haben im August auch Michael Kretschmer, Ministerpräsident von Sachsen, und Karl-Josef Laumann, Gesundheitsminister von Nordrhein-Westfalen, ins Spiel gebracht. Obwohl die beiden Landespolitiker der CDU mit ihrem Vorschlag das eigene Parteiprogramm torpedieren, reagierte die CDU-Spitze gelassen.

Wirtschaftsweiser Werding: Vollversicherung nicht realistisch

Martin Werding, Professor für Sozialpolitik an der Universität Bochum, der die Bundesregierung als einer von fünf Wirtschaftsweisen in gesundheits- und sozialpolitischen Fragen berät, hält die Vollversicherung für ein Luftschloss. „Mich hat gewundert, dass in dem Bericht überhaupt von Vollversicherungen die Rede ist“, sagt Werding der F.A.Z. „Das weckt Erwartungen, die nicht erfüllt werden können.“

Die Zahl der Pflegebedürftigen stieg zuletzt um rund 300.000 pro Jahr, im vergangenen Jahr sogar um 360.000. Sie liegt inzwischen bei rund 5,2 Millionen, um die Jahrtausendwende waren es noch rund zwei Millionen Pflegebedürftige. Eine Umkehr des Trends ist vorerst ausgeschlossen, denn das Pflegerisiko der Babyboomer-Jahrgänge wird nun Jahr für Jahr ansteigen, immer schneller. Werding sagt: Würden heute alle Ansprüche, die aus der Pflegeversicherung entstehen, abgerufen werden, würde das System bereits kollabieren. Eine Absicherung aller pflegebedingten Kosten erscheint daher utopisch.

Das zweite große Problem neben der steigenden Zahl der Pflegefälle: Es fehlen die Pflegekräfte. Das Statistische Bundesamt geht davon aus, dass Deutschland bis 2049 etwa 2,15 Millionen Pflegekräfte benötigt. Fehlen werden jedoch 280.000 davon – im günstigsten aller Szenarien. Im schlimmsten Fall rechnet das Statistische Bundesamt mit 690.000 fehlenden Pflegekräften.

Die Pflege und ihre Lohn-Preis-Spirale

Um den Worst Case zu vermeiden, steigen seit Jahren die Löhne in der Pflege, die Arbeitsbedingungen werden verbessert. Auch das treibt die Kosten in die Höhe. Der Pflegewissenschaftler Heinz Rothgang von der Universität Bremen sagt: „Die Pflege ist ein Mangelberuf, die Lohnentwicklung geht deswegen seit Jahren steil nach oben – und wird das weiter tun.“ Ein nun auf den Weg gebrachtes „Pflegekompetenzgesetz“ geht in diese Richtung, es soll den Pflegeberuf an verschiedenen Stellen stärken.

Rothgang sagt, unter den gegenwärtigen Bedingungen sei es eine einfache Rechnung: Wenn die Kosten der Pflege stiegen und die Leistungen unverändert blieben, dann erhöhten sich die Eigenanteile. Und das werde erst mal so weitergehen. Die jüngsten Zahlen geben ihm recht: Den Ersatzkassen zufolge zahlen die Pflegebedürftigen im Heim durchschnittlich 2871 Euro pro Monat im ersten Jahr zu – 233 Euro mehr als noch 2023.

Von heute aus gerechnet, „haben wir noch zehn Jahre für die Lawine im Pflegesystem, vielleicht etwas mehr“, sagt Martin Werding. Durch die politische Passivität „haben wir uns in den Zwang manövriert, hässliche Kompromisse machen zu müssen zwischen der Pflegebedürftigkeit und der Luft, die wir den Jüngeren zum Atmen lassen“. Nun müsse an jeder Stellschraube, die sich anbietet, gedreht werden. Das unbequeme Thema dürfe keineswegs ignoriert werden. „Ich werbe dafür, dass wir die vulnerable Gruppe der Pflegebedürftigen besonders in den Blick nehmen, denn hier geht es um die Würde in der letzten Lebensphase.“ Für Werding ist es auf der sozialpolitischen Prioritätenliste über der Rente anzusiedeln.

Sockel-Spitze-Tausch für mehr Sicherheit im Pflegefall?

Eine Option für mehr Sicherheit im Pflegefall, über die Lauterbach gerne spricht, ist der sogenannte Sockel-Spitze-Tausch. Derzeit übernimmt die Versicherung einen festen Betrag der Pflegekosten, den Sockel – und das Risiko der explodierenden Kosten, die Spitze, liegt beim Versicherten. Beim Sockel-Spitze-Tausch wäre es umgekehrt.

Rothgang hält den Schritt, mit dem das Versprechen einer Teilkaskoversicherung aus seiner Sicht überhaupt erst erfüllt wäre, für machbar: Neben SPD, Grünen und Linken seien auch Teile der CDU dafür. Als Lauterbachs Vorgänger Jens Spahn gegen Ende seiner Amtszeit einen solchen Schritt erwogen hatte, habe der Pflegesektor mit seiner Kritik an der Höhe der damals geplanten Eigenanteile falsch reagiert. Rothgang sieht die Debatte nun wiederbelebt.

Wäre der Sockel-Spitze-Tausch also ein kluger Schritt, um das Risiko zu deckeln und zumindest etwas Vertrauen in das Pflegesystem wiederherzustellen? Würden sich dafür noch höhere Kosten lohnen? Martin Werding sagt, er sehe durchaus den Charme des Vorschlags. Und dennoch ist er skeptisch, weil eben auch dieser Schritt die Kosten erhöhen dürfte. Das Wissenschaftliche Institut der Privaten Krankenversicherung hält den Sockel-Spitze-Tausch für ein Projekt, das langfristig mehr als 100 Milliarden Euro zusätzlich schlucken würde. „Ich wäre damit vorsichtig, solange wir bei der Frage nach der langfristigen Finanzierung der Pflege nicht weitergekommen sind“, sagt Werding.

„Verletzung der Generationengerechtigkeit ist offenkundig“

Bliebe noch ein neues Finanzierungsmodell als Reformidee. „Kapitaldeckung hat zwei Vorteile“, sagt Werding: „Zum einen können Sie international anlegen, sind also nicht abhängig von der demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland. Zum anderen können Kapitaldeckungen den Anstieg der Kosten für Pflege in einer alten Gesellschaft abfedern.“ Und das sei bitter nötig, um die jüngere Generation nicht zu überlasten. „Ich bin kein Sozialethiker, aber die Verletzung der Generationengerechtigkeit, in die wir in einem reinen Umlagesystem steuern, ist offenkundig.“

Rothgang hingegen hält die Kapitaldeckung für keinen echten Ausweg aus dem Pflegedilemma. „Im demographischen Wandel müssen eben weniger Junge mehr Alte finanzieren. Aus diesem realwirtschaftlichen Zusammenhang kommen wir nicht heraus“, sagt er. Bei einem Umstieg auf ein kapitalgedecktes System werde die Last sogar noch größer, weil die erworbenen Ansprüche weiter finanziert werden müssten, zugleich aber ein Kapitalstock aufgebaut werden müsse: noch mehr Kosten also. „Über vierzig bis fünfzig Jahre kommt es so zu einer Doppelbelastung“, sagt Rothgang. Doch auch er hält die Einführung der Kapitaldeckung für wahrscheinlich: „Es wird im zukünftigen Finanzierungsmix mit Sicherheit eine Rolle spielen, wenn es tatsächlich eine Reform geben sollte.“

Schweden zeige, auch mithilfe eines Anlagesystems, wie es gehen kann, meint Martin Werding. Die Kapitaldeckung wurde dort früh obligatorisch eingeführt. Doch nicht nur deswegen bezeichnet Werding Schweden als „Musterland für Alterssicherung“: Ende der Neunzigerjahre ist der Beitragssatz dort eingefroren worden. Damit war die Belastung für die jüngere Generation gedeckelt, so Werding. Und: „Der Renteneintritt ist variabel, je später, desto mehr wird es belohnt.“ Ähnlich wie in Deutschland – in Schweden allerdings wird der spätere Renteneintritt gerne angenommen. Die Probleme mit der Pflegefinanzierung seien dort überschaubar, weil man nicht dogmatisch an einem möglichst frühen Renteneintrittsalter hänge.

Die Trägheit der Umlagesysteme als Sicherheitsfaktor

Bei der Rente sieht Werding ohnehin den größten Hebel. „Wir schreiben eine Erfolgsgeschichte der steigenden Erwerbstätigkeit von Menschen über 55 und über 60 Jahren. In diese Richtung müssen wir weitergehen“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler. „Wenn wir das machen, ist es günstig für den Beitragssatz und für das Niveau der Leistungen – das ist eine sehr seltene Konstellation“, jede andere Maßnahme gehe auf Kosten von einer der beiden Seiten. Die bevorstehende Festschreibung des Rentenniveaus bis 2039, welcher der Bundestag noch zustimmen muss, geht jedoch in die entgegengesetzte Richtung.

Bietet das Pflegesystem so, wie es ist, also keinerlei Sicherheiten mehr? So drastisch sieht es Werding längst nicht. „Die deutschen Sozialversicherungen haben das Kaiserreich, die Weimarer Republik, die Nazizeit und die DDR überlebt, sie sind deutlich stabiler als viele andere Institutionen“, sagt er. Umlagesysteme seien extrem träge, man könne sie nie komplett einstellen, weil es immer Ansprüche gebe – „das bedeutet zumindest eine Grundsicherheit“. Man müsse bloß damit rechnen, dass sie in Zukunft nicht ausreichen werden und private Ergänzungen notwendig sind.

Vielsagend erschienen auch in dieser Hinsicht Aussagen Lauterbachs aus dem Mai. Der Minister war damals erkennbar bemüht, Aufmerksamkeit auf den Pflegenotstand zu lenken, und sprach von einem „explosionsartigen“ Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen, zeigte sich überrascht von einer Entwicklung, die statistisch kaum anders zu erwarten war.

Fachlich sei die Entwicklung so erwartbar gewesen, dass Heinz Rothgang Lauterbachs Reaktion eine „dargestellte Überraschung“ nennt. Seinerzeit dämpfte Lauterbach auch die Erwartungen an eine grundlegende Reform, von der er in diesem Herbst wieder zu sprechen begonnen hat. Rothgang sieht diese in weiter Ferne, sie erscheine „in dieser Koalition kaum möglich“. Werding sagt, wenn er auf den Kalender schaue, sehe er nicht, „wie eine echte Pflegereform in der laufenden Legislaturperiode noch gelingen kann“. Er warnt: „Wir sollten nicht in die Vollen greifen, wenn wir die Leistungen zu den Ansprüchen gar nicht anbieten können.“

Über Effizienz müsse gesprochen werden, über quartiersbasierte Versorgung, Pflegeformen mit geteilter Arbeit zwischen professionellen Pflegern und Angehörigen. „In diesen Modellen liegt eine Zukunft, die menschenwürdig ist und ökonomisch funktioniert.“ Die Mehrheiten dafür scheinen nicht gegeben, stattdessen steht wohl eine Erhöhung der Beitragssätze bevor, um für den Moment das Schlimmste zu verhindern. Die demographische Entwicklung allerdings wird kaum auf das richtige bundespolitische Momentum warten.



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