2024-12-12 17:02:00
„Eine halbe bis dreiviertel Million Kleinkinder in Deutschland haben hochgerechnet keinen ausreichenden Impfschutz gegen Kinderlähmung“, sagt Reinhard Berner, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (Stiko). Mit zwei Jahren sind es demnach noch mehr als 180.000 Kinder pro Jahrgang. Das ist ein Problem, denn nach Funden des Virus in allen acht überwachten Abwasserstellen ist klar, dass sich die Erreger der Kinderlähmung verbreiten – obwohl Europa seit 2022 als poliofrei gilt.
Der Grund, auf den Wissenschaftler bereits in der Vergangenheit hingewiesen haben, liegt darin, dass in Ländern außerhalb Deutschlands Polioviren mit Schluckimpfungen bekämpft werden: Der orale Impfstoff ist einfach zu handhaben und kann auch unter widrigen Umständen verteilt werden, wie beispielsweise die kürzlich erfolgte WHO-Impfkampagne in Gaza gezeigt hat.
In dieser Schluckimpfung werden abgeschwächte Viren oral verabreicht, das Immunsystem trainiert an ihnen und baut einen Schutz vor Infektionen mit dem Erreger auf. Da die abgeschwächten Viren von den geimpften Personen ausgeschieden werden, können sie in Regionen mit sehr niedriger Impfquote sogar den Immunschutz bei ungeimpften Kindern erhöhen: Sie nehmen die abgeschwächten Impfviren bei Schmierinfektionen oder durch verschmutztes Wasser auf – und können so ebenfalls einen Immunschutz aufbauen. In sehr seltenen Fällen können nach einer Schluckimpfung beim Impfling selbst oder bei ungeimpften Kindern allerdings Symptome der Kinderlähmung auftreten.
Impfaufschub als Auslöser
In Ländern mit hoher Impfquote und guter medizinischer Infrastruktur wird deshalb nicht mehr oral geimpft, sondern durch eine Injektion. In Deutschland ist das seit 1998 der Fall. Hier wird Babys das Poliovakzin im Rahmen der Standardimpfungen zusammen mit fünf weiteren Vakzinen als Sechsfachimpfung im Alter von einem, drei und elf Monaten in den Muskel gespritzt. Im Alter von neun bis sechzehn Jahren wird eine Auffrischung empfohlen.
Allerdings, darauf weist Stiko-Vorsitzender Berner hin: „Vier von fünf Kindern sind am Ende ihres ersten Lebensjahres in Deutschland nicht vollständig geschützt, da sie noch nicht die empfohlenen drei Impfungen erhalten haben.“
Es ist kein neues Phänomen, dass Eltern den empfohlenen Impfplan bei ihren neugeborenen Kindern nicht einhalten. „Dass Impfungen aufgeschoben wurden, weil eine junge Familie sich gerade erst mit dem vor wenigen Wochen geborenen Kind einrichtet, es Bauchweh, eine Erkältung hat oder es aus anderen Gründen gerade nicht gut passt, ist verständlich“, sagt Berner. „Das war schon immer so. Aber wenn wir vor Krankheiten schützen wollen, die gerade im ersten und zweiten Lebensjahr besonders bedrohlich sind, dann müssen wir sehr früh mit dem Impfen beginnen. Da hilft alles nichts!“
Denn die weltweite Poliolage hat sich verändert. Nun kursieren auch in Deutschland wieder Impfviren, was die Situation für ungeimpfte Säuglinge schwierig macht. Berner, der auch Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Universität Dresden ist, erklärt, dass, wenn unerwartete Bedrohungen aufträten – wie nun etwa durch nach Deutschland eingetragene Polioviren –, sich besonders deutlich zeige, wie wichtig es sei, auf einen ausreichenden Impfschutz vertrauen zu können.
Ungeimpft können Viren des Wildtyps vor allem bei kleinen Kindern das Nervensystem angreifen. Bei jedem hundertsten bis tausendsten Kind kommt es zu bleibenden Lähmungen der Arm- oder Beinmuskulatur, manchmal sind auch Sprech-, Schluck- oder Atemmuskeln betroffen, was zum Tod führen kann. Die Viren sind sehr leicht über Schmierinfektionen, Körperkontakt oder verschmutztes Wasser übertragbar. Umso entschiedener treibt die Weltgesundheitsorganisation die Auslöschung des Virus voran, zuletzt kamen nur noch in Afghanistan und Pakistan Polioviren des Widtyps auf.
Wegen dieser Impfprogramme schien die Kinderlähmung zu einem Thema der Vergangenheit zu werden. Das WHO-Ziel der weltweiten Ausrottung war in greifbarer Nähe. Doch durch Krisen und Kriege kommt es immer wieder dazu, dass Impflücken bei Kleinkindern entstehen. Auch Nachlässigkeiten bei den Impfraten in poliofreien Ländern können Kinder gefährden – weshalb die Stiko nun auch in Deutschland Eltern zu Aufmerksamkeit drängt.
Um abzuschätzen, ob hierzulande eine Poliogefahr durch eingeschleppte Impfviren besteht, wird seit Mai 2021 das Abwasser an acht Stellen in sieben Städten auf Polioviren getestet. „Das Auftreten von Schluckimpfstoff-abgeleiteten Polioviren an allen Abwassermessstellen zeigt, dass wir die Lage ernst nehmen müssen“, sagt Berner. Die Stiko ruft „alle Erziehungsberechtigten“ dazu auf, den Impfstatus ihrer Kinder selbst zu überprüfen oder von Kinder- oder Hausärzten überprüfen zu lassen und fehlende Impfungen möglichst bald nachzuholen.
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