2025-02-01 13:16:00
2021, während der Covid-19-Pandemie, erntete Svenja Flaßpöhler, Chefredakteurin des „Philosophie Magazins“, nach einem Auftritt in der Fernsehsendung „Hart aber fair“ herbe Kritik. Ihr wurde Seriosität abgesprochen und „Schwurblertum“ vorgeworfen. Flaßpöhler verstand ihre Positionen als Plädoyer für eine differenzierte Wahrnehmung der Impfgegner und für mehr Eigenverantwortung der Bevölkerung. Nun hat sie diese Auseinandersetzungen in einem Essay mit dem Titel „Streiten“ (als Buch erschienen bei Hanser Berlin) auf bemerkenswerte Weise kommentiert.
Ausgangspunkt des schmalen Buches ist ein Bekenntnis zum Streit: „Werden die Grenzen des Sagbaren eng gezogen, um gesellschaftlichen Zusammenhalt in schweren Zeiten zu gewährleisten, erreicht man unter Umständen das genaue Gegenteil. An die Stelle der Bindung tritt der Zerfall.“ Flaßpöhler wendet sich offenkundig gegen die „Alternativlosigkeit des autoritären Szientismus“ (Peter Strohschneider) sowie gegen den politischen und medialen Mehrheitsdiskurs während der Pandemie. Streit sieht sie als Katalysator für marginalisierte Wahrnehmungen. Schon Georg Simmel hat, wie sie erwähnt, den Streit als „Vergesellschaftungsform“ betrachtet. In ihren Worten: „Erst durch Streit finden die Mitglieder einer Gruppe das rechte Verhältnis zueinander.“
Eine Form der Vergesellschaftung
Simmel hat seine Überlegungen zum Streit erstmals 1908 in seinem Hauptwerk „Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“ formuliert. Sie sind bis heute Ausgangspunkt zahlreicher Polemik-Forschungen. Indem Flaßpöhler ihre eigenen Erfahrungen mit Simmel deutet, versucht sie, auf die Streitigkeiten vor drei Jahren zurückzublicken und ihr eigenes Agieren während der Pandemie zu begründen. Zwar ist es nicht selten, dass während eines Streits frühere eigene Äußerungen kommentiert werden. Eine theoretische Selbstverortung findet hingegen nur selten statt – erst recht nicht einige Jahre später und weitgehend frei von Vorwürfen gegen die damaligen Kontrahenten. „Streiten“ ist deswegen nicht nur als politischer Debattenbeitrag, sondern auch als Selbstversuchsbericht für die Polemik-Forschung von einigem Interesse.
Vergegenwärtigt man sich, wie sehr Flaßpöhler nach eigenem Bekunden ihr Auftritt und die Beschimpfungen nach der Talkshow zugesetzt haben, mutet ihr Bekenntnis zur vergesellschaftenden Funktion von Streit überraschend optimistisch an. Es korrespondiert mit ihrem verhältnismäßig positiven Streitverständnis. In kritischer Absetzung von Carl Schmitts „Begriff des Politischen“ erklärt sie, dass die Kontrahenten in Streitigkeiten eben keine Feinde, sondern Gegner seien, die sich miteinander messen wollten. Im Streit begegnen sich die Kontrahenten auf Augenhöhe und nutzen ähnliche Streittechniken. Auch sollte der Unterlegene bereit sein, seine Niederlage anzuerkennen. Öffentliche Streitigkeiten sieht die Publizistin letztlich als einen politischen Wettbewerb um die besseren Argumente, bei dem es zwischenzeitlich zwar recht ruppig zugehen kann. Im Anschluss schüttelt man sich aber die Hände und trinkt vielleicht sogar zusammen ein Bier.
Ein solches Streitverständnis hat seine Grenzen. Flaßpöhler räumt das selbst ein: „Im Typ Trump zeigt sich ein politischer Akteur, der gar kein Interesse hat, sich nach strikten Regeln zu messen.“ Es gibt also doch Feinde, nicht nur Gegner.
Diskussion, Kontroverse, Disput
Der 2019 verstorbene Linguist Marcelo Dascal hat vorgeschlagen, je nach Eskalationsgrad zwischen Diskussion, Kontroverse und Disput zu unterscheiden. Für Dascal kennzeichnet den Disput, dass dieser nicht durch interne Regeln aufgelöst werden kann, sondern lediglich durch externe Intervention. Flaßpöhlers Verständnis von Streit entspricht dem, was Dascal Kontroverse nennt.
Gleichzeitig scheint sich Flaßpöhler auch auf Simmel berufen zu können. Dieser hat betont, dass es in einer aus einem Streit resultierenden Vergesellschaftung immer darum gehe, „zu irgend einer Art von Einheit“ zu „gelangen“. In einer gewissen Spannung zum persönlichen Habitus stacheliger Coolness, den Flaßpöhler als Philosophie-Unternehmerin kultiviert, nimmt sie als Buchautorin in der Sache ein ethisches Fundament als Basis des Streits an. Im Essay „Streiten“ folgt nicht nur aus der Auseinandersetzung eine soziale Einheit, sie wird auch vorausgesetzt.
Der Soziologe Simmel war in diesem Punkt weniger optimistisch. Er betont, dass im Anschluss an den Streit Einheit nicht nur dadurch hergestellt werden kann, dass der Sieg einer Partei anerkannt wird. Simmel kennt als Alternative die „Vernichtung der einen Partei“, aus der letztlich auch eine Vergesellschaftung folge. Bei ihm streiten nicht nur Gegner, sondern auch Feinde mit- und gegeneinander. Angesichts der anhaltenden Aggressivität im öffentlichen Diskurs – zumal in den vermeintlich sozialen Medien – dürfte Simmels Streitverständnis zuletzt an Triftigkeit weiter gewonnen haben. Svenja Flaßpöhler, die sich selbst als „streitlustig“ bezeichnet, hat mit „Streiten“ ein Buch vorgelegt, das vor dem Hintergrund der inzwischen mehr als hundert Jahre alten Polemik-Forschung bemerkenswert irenisch wirkt.