2024-12-27 22:44:00
Immer mehr junge Menschen verlieren in Deutschland wegen schlechter Schul- oder fehlender Berufsabschlüsse den Anschluss an den Arbeitsmarkt. 12,8 Prozent der Jugendlichen hatten im Jahr 2023 höchstens einen Abschluss der Sekundarstufe eins, zeigt ein kurz vor Weihnachten veröffentlichter Bericht der EU-Kommission. Der Anteil lag deutlich höher als vor zehn Jahren (9,8 Prozent) und oberhalb des EU-Schnitts (9,5 Prozent). Der Anstieg deute auf eine „kritische Situation“ hin, heißt es in dem Bericht.
Ein ähnlich dramatisches Bild zeigt der jüngste Berufsbildungsbericht des Bundesinstituts für Berufsbildung: Demnach hatten 2018 14,4 Prozent der 20- bis 34-Jährigen keine abgeschlossene Berufsausbildung. Bis 2022 stieg der Anteil auf 19,1 Prozent, was 2,86 Millionen jungen Menschen entspricht. „Das ist ein erschreckender Anstieg“, sagt Ifo-Bildungsökonom Ludger Wößmann der F.A.Z.
Getrieben wird der Anstieg auch, aber nicht nur durch die Migration. Unter jungen Menschen ohne deutschen Pass stieg der Anteil ohne Berufsabschluss von 2018 bis 2022 von 33 auf 38 Prozent, zeigt der Berufsbildungsbericht. Aber auch unter Deutschen ohne Migrationshintergrund legte die Quote von 8,3 Prozent (2018) auf 11,6 Prozent (2022) deutlich zu. Mehr als jeder zehnte deutschstämmige Jugendliche blickt damit in eine berufliche und finanziell ungewisse Zukunft. Denn wer keinen Berufsabschluss hat, läuft große Gefahr, niemals auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.
Keine gute Vorbereitung auf den Beruf
Jeder Fünfte ohne Berufsabschluss ist aktuell arbeitslos gemeldet. Viele andere Betroffene dürften sich mit Helferjobs und niedrigen Löhnen durchschlagen. Zum Vergleich: Unter Menschen mit abgeschlossener Lehre oder Hochschulabschluss liegt die Arbeitslosenquote nur bei 3,2 beziehungsweise 2,5 Prozent.
Die Zahlen sind auch deshalb alarmierend, weil der Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren trotz wirtschaftlicher Stagnation intakt war und Arbeitskräfte gesucht wurden. Die Arbeitgeber hätten in den vergangenen Jahren zudem „eine immer größere Notwendigkeit verspürt, auch Schüler mit schlechten Abschlüssen auszubilden“, sagt Ifo-Ökonom Wößmann. Die aktuellen Daten zeigten jedoch, dass das Bildungssystem nicht genügend auf die Berufswelt vorbereitet.
Was sind die Ursachen für die steigenden Zahl der beruflich „Abgehängten“ in Deutschland? Bildungsforscher Wößmann sieht einen klaren Zusammenhang zu den nachlassenden Schulleistungen in Deutschland. Die PISA-Vergleichsstudien hatte zuletzt ans Licht gebracht, dass sich der Anteil der 15-Jährigen ohne Grundkenntnisse in Mathematik und Naturwissenschaften seit 2012 fast verdoppelt hat. Mit Blick auf die auf dem Arbeitsmarkt benötigten Qualifikationen und den technologischen Wandel müsse diese Entwicklung größere Aufmerksamkeit erhalten, warnt der Bericht der EU-Kommission.
Vorbild Estland
PISA-Koordinator Andreas Schleicher, der bei der OECD den Bildungsbereich verantwortet, bemängelt in Deutschland einen „ungewöhnlich großen Zusammenhang zwischen dem sozialen Hintergrund der Schüler und ihrem Bildungserfolg“. Vor allem wenn Eltern selbst bildungsfern sind oder wenig verdienen, schafften Kinder seltener als anderswo einen höheren Bildungsabschluss. Als dritter Faktor komme die Migration hinzu.
Schleicher hält das dreigliedrige Schulsystem und insbesondere die Hauptschule in Deutschland für problematisch. „Vor allem weil nicht nach Talent, sondern vor allem nach sozialem Hintergrund sortiert wird“, sagt er der F.A.Z. Das deutsche Schulsystem schicke Kinder zu schnell auf einen Bildungsweg, auf dem sie zu wenig gefordert und gefördert werden.
Als Gegenbeispiel nannte er den europäischen PISA-Spitzenreiter Estland. Dort werden Kinder in der Schule so lange wie möglich zusammengehalten, auch die leistungsschwächeren Kinder müssten sich höheren Anforderungen stellen. „Irgendwie schaffen die das meistens dann auch“, sagte Schleicher.
Verpflichtendes Kindergartenjahr als Lösung?
Auch Estlands Bildungsministerin Kristina Kallas hatte in Abgrenzung zu Deutschland im Sommer im Interview mit der F.A.Z. gesagt: „Wir in Estland glauben fest daran, dass wir Kinder nicht voneinander trennen sollten.“ Die Kinder bis zum Ende der neunten Klasse zusammen zu unterrichten sei wichtig, „weil sich die akademischen Fähigkeiten der Kinder in sehr unterschiedlichen Stadien ihres Lebens entwickeln“.
Um gegenzusteuern, befürworten Ifo-Forscher Wößmann und PISA-Chef Schleicher ein verpflichtendes Kindergartenjahr vor der Einschulung. Wößmann bezeichnet es als „absolut sinnvoll“ und den Widerstand dagegen als „oft am Kern vorbei“.
Schleicher argumentiert, dass in einem Pflichtjahr soziale und kognitive Grundlagen gelegt würden, die später schwer aufzuholen seien. Beide verweisen zudem auf die Erfolge des Hamburger Modells: Dort werden alle Viereinhalbjährigen zu einem Sprachtest geladen. Wer durchfällt, wird vorschulpflichtig und erhält verbindliche Sprachförderung. Seitdem Hamburg dieses Modell 2005/2006 eingeführt hat, „haben sich die Bildungsergebnisse dort deutlich gegen den deutschen Trend verbessert“, sagt Wößmann.
Auch im höheren Alter kann aber offenbar noch etwas bewegt werden: Wößmann und seine Kollegen haben in einem Modellprojekt gezeigt, dass es einen großen Unterschied macht, wenn leistungsschwache und bildungsferne Acht- und Neuntklässler einen Mentoringpartner zur Seite gestellt bekommen, der sie in zweiwöchentlichen Treffen unterstützt und eine Beziehung zu ihnen aufbaut. Drei Jahre nach Programmstart waren doppelt so viele Jugendliche in Ausbildung wie in der Kontrollgruppe. Das entspricht einem Anstieg um 29 Prozentpunkte, heißt es in einer Auswertung des Programms.
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